Von Ben, dem ehemaligen Straßenhund und der Fülle im Leben
In meinem heutigen Beitrag geht es mal nicht um das einzelne Schicksal eines Menschen, der zu mir in die Praxis gekommen ist, heute geht es um das Leben jedes einzelnen, und möglicherweise fühlst auch du dich angesprochen. Kürzlich las ich im Internet ein Interview mit Gerald Hüther, einem bekannten Hirnforscher. Es ging um die zunehmende Umweltverschmutzung, die unserem Massenkonsum geschuldet ist. Und es ging um die Frage: Warum müssen wir eigentlich immer mehr konsumieren? Weiter, höher, schneller, mehr….??
Das ist eine Frage, die auch mich schon länger umtreibt. Denn seien wir einmal ganz ehrlich: Macht es dich glücklich, das 85. T-Shirt kaufen zu können oder das 30. Paar Schuhe? Erfüllt es dich, eine Kreuzfahrt auf einem großen Schiff machen zu können, einem Ozeanriesen, der unglaublich viel Dreck in den Weltmeeren und der Atmosphäre zurücklässt, nur um dich für deinen Spaß von einem Urlaubsziel zum anderen zu schippern?
JA! Ich höre es dich laut sagen, sogar empört. JA! Es erfüllt mich, es macht mir Freude, und warum soll ich es also nicht tun? Andere tun es doch auch…?
Ok. Das habe ich verstanden. Doch wie lange macht es dir Freude? Hopst du glückstrahlend durch dein Leben, weil du ein wunderschönes Paar Schuhe kaufen konntest? Eines, das besonders gut zu deinem neuen Outfit passt? Wirst du als alter Mensch glücklich und zufrieden zurückblicken auf die vielen Schuhe, die du im Laufe deines Lebens gekauft und getragen hast? Wirst du dir sagen können: Jawohl, es war ein tolles Leben, weil ich mir so viele Luxusurlaube leisten konnte? Wenn dem so ist, kannst du an dieser Stelle aufhören, weiterzulesen, denn dann betrifft dich nicht, was ich hier schreibe.
Wenn du aber zu denen gehörst, die jetzt ins Nachdenken kommen: Lies weiter.
Meistens ist es doch so, dass wir konsumieren, weil uns etwas fehlt, weil wir einen Mangel im Leben haben. Ich meine nicht den Mangel an Lebensmitteln, denn wir leben im Überfluss. Ich meine den Mangel in der Seele oder im Herzen, der über unser überflüssiges Konsumverhalten kompensiert werden soll. Wir belohnen uns für etwas, weil uns vielleicht Anerkennung fehlt, wir trösten uns, weil wir möglicherweise nicht genug Liebe erfahren, übrigens auch uns selbst gegenüber nicht genug Liebe empfinden. Und natürlich konsumieren wir, um unseren Mitmenschen gegenüber etwas darzustellen. Wir fahren ein großes teures Auto, wir legen Wert auf teure Markenklamotten, besonders auf die, denen man am Label schon ansehen kann, wie teuer sie sind, wir meinen, privilegiert zu sein, wenn wir uns das neueste und teuerste Handy oder Laptop leisten zu können. Tja, und dann noch die Luxusurlaube…
Stell`dir jetzt einmal vor, außer dir gäbe es keinen Menschen auf der Welt. Nur dich. Du allein könntest diesen ganzen Luxus ganz allein genießen. Du gehst in ein Geschäft, und nimmst dir ein teures Kleidungsstück. Einfach so, weil du es kannst. Es ist niemand da, der dich zum Zahlen auffordert. Es ist auch niemand da, der dich dabei sieht, wenn du in deinem Luxusauto durch die Gegend kutschierst. Es ist niemand da, der dich bewundert. Es beneidet dich niemand, und niemand könnte denken: Donnerwetter, der/die muss aber ein gutes Einkommen haben! Hätte ich auch gern…
Hast du Spaß dabei, ohne Menschen, die dich dabei registrieren, dieses teure Auto fahren zu können? Erfüllt es dich mit Freude, dieses teure Kleidungsstück zu tragen, wenn doch niemand da ist, der es sieht?
Vermutlich nicht.
Verstehst du, warum ich das alles in epischer Breite schreibe? Ich möchte lediglich einen kleinen Denkanstoß geben für unser aller Konsumverhalten, das nicht nur uns, sondern auch unseren Globus kaputtmacht. Es hat einen Grund, dass wir glauben, immer mehr haben zu müssen, und der Grund liegt in uns. Und unsere Konsumgesellschaft bedient den Mangel in unserem Leben, in dem sie uns suggeriert, dass wir nur wertvoll und vollständig sind, wenn wir eben konsumieren und uns ausschließlich über unsere neuesten Errungenschaften definieren. Unsere Konsumgesellschaft möchte auch nicht, dass wir aus der gewünschten Oberflächlichkeit heraus einmal nachdenken über die einzig wichtige Frage: Was will ich vom Leben, und wer will ich eigentlich sein?
Gerald Hüther sagt in seinem Interview: „Wer glücklich ist, der kauft nicht…“
Stimmt.
Ok, wirst du nun sagen, ich habe verstanden. Doch was hat das nun mit der Fülle im Leben zu tun?
Kleiner Exkurs zum Leben der Autorin dieses Beitrags:
Ich habe lange gut verdient, sehr gut sogar. Und ich fühlte mich privilegiert, weil ich ein großes und teures Auto fuhr, so eines von der Sorte, die in Bayern produziert wird. Ich fühlte mich privilegiert, weil ich mal eben ein paar Hundert Euro für neue Klamotten ausgeben konnte. Einfach so. Und natürlich war es mir wichtig, in teuren Hotels meine Urlaube verbringen zu können. Ich fühlte mich dazugehörig, wenn ich mich mit anderen, vermutlich Gleichgesinnten darüber unterhalten konnte. Und ich fühlte mich wertvoll, denn ich leistete, ich strengte mich an, ich gab alles. Nur leider fand meine Leistung keinerlei Anerkennung durch mein Umfeld oder gar von meiner Vorgesetzten, übrigens auch von mir selbst nicht. Den Beruf, den ich da ausübte, empfand ich als sinnentleert, doch er wurde gut bezahlt. Ich war schon lange unglücklich, doch wollte es nicht wahrhaben.
Wie wertvoll das alles war, merkte ich dann, als ich krank wurde. Da gehörte ich nicht mehr „dazu“, ich wurde aussortiert wie ein schadhaftes Kleidungsstück. Mit der langen Erkrankung kam ich ins Nachdenken. Das gute Einkommen, das ich hatte, war auch mit großem Leistungsdruck verbunden. Der Luxus, den ich mir leisten konnte, machte mir nur einen kleinen Augenblick Freude. Ich war so beschäftigt mit Geld verdienen und Geld ausgeben, dass gar keine Zeit blieb, einmal inne zu halten, um in mich hinein zu hören.
Wer bin ich? Ist es das, was ich vom Leben möchte? Erfüllt mich mein Tun, macht es mich glücklich?
Ich wollte die gefühlte Antwort nicht wahrhaben, ich lief vor mir selbst weg, und kaum fühlte ich mich einigermaßen fit, ging ich wieder in die Tretmühle.
Du wirst jetzt sagen: Das ist aber nicht so bei mir.
Das weiß ich doch. Aber du erlaubst, dass ich nun zur Fülle im Leben komme.
Ich mache es kurz: Ich brauche den ganzen Konsum nicht, denn ich habe gemerkt, dass mir andere Dinge viel wichtiger sind. Ich übe meinen neuen Beruf leidenschaftlich gern aus, ich liebe es, keinen Druck und keinen Stress mehr zu haben, ich höre den Menschen gern zu und bin glücklich, wenn ich sie dabei unterstützen kann, ihren Weg zu finden. Hier habe ich meine Erfüllung gefunden.
Und Ben, den Straßenhund, der mich in den ersten zwei Monaten bei uns den letzten und den allerletzten Nerv gekostet hat, unterweist mich mit seiner unschuldigen Neugier und Lebensfreude in den Dingen, die ich noch nicht so beherrsche: geduldig zu sein, und sich vielleicht nicht immer so viele Gedanken zu machen um Dinge, die eigentlich gar nicht wichtig sind: Choose your battle oder mit meinen Worten: Nutze deine Energie und Kraft für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.
Und spüre dein Herz hüpfen vor Glück, wenn du, vielleicht so wie ich, am Morgen durch die taufrischen Wiesen läufst und deinen Hund dabei beobachten kannst, wie er sich voller Lebensfreude im Gras wälzt.
Ich habe längst nicht mehr das Einkommen, das ich einmal hatte, aber erst jetzt fühle ich mich so richtig privilegiert. Denn ich habe mir die Freiheit genommen, mich zu befreien, und um der Mensch sein zu können, der ich sein will. Jeden Tag ein bisschen mehr.